Christoph Gahl |
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Anatomystik – verlag petersen press |
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aus: Colloquium 1964 | |||
„Ich verlege aus Leidenschaft und nicht, um den Umsatz der Papierfabrikanten zu steigern.“ Wer solch Bekenntnis auf dem Polster fünfstelliger Auflagen genüßlich von sich gibt, darf kaum auf Bewunderung rechnen. Indes, Jungverleger Jes Petersen, der Autor dieses Satzes, ist genau das Gegenteil von einem Auflagen-Fabrikanten. Der norddeutsche Eigenbrötler, 1936 als Bauernsohn geboren, tut alles, um keinen Erfolg zu haben: Er bringt Bücher heraus, die nur für einen kleinen Liebhaberkreis bestimmt sind. Er macht keine Konzessionen an Volkswartbund und Zeitgeschmack. Er verärgert Staatsanwälte. Er hat Freude am Risiko und Mut zur Unrentabilität. Überflüssig zu sagen, daß er kein Geld hat; selbstverständlich, daß seine Büroangestellten, seine Lektoren und Vertriebsleute alle Jes Petersen heißen. Der Betrieb heißt „Petersen Press“ und ist vor zwei Monaten nach Berlin umgezogen, mit ihm eine alte Handpresse, sehr wenig Remittenden bisher verlegter Bücher und Pläne für ein halbes Dutzend Neuerscheinungen. Petersens Entwicklung ist insofern originell, als sie nicht im Mief großstädtischer Künstlerkeller, sondern in der ländlichen Frischluft um Flensburg begann. Seinen ganzen Lohn als landwirtschaftlicher Lehrling investierte er in Bücher, vor allem in die Werke der literarischen Avantgarde nach dem Ersten Weltkrieg, und in Bildungsreisen nach Paris, Kopenhagen, Belgien – „Ausbruchversuche, denn ich bin ein saumäßig schlechter Landwirt gewesen“. Mit der Verlegerei begann er eigentlich, weil ihm Namen wie Raoul Hausmann und Oskar Panizza in seinem Bücherschrank fehlten. Eine Auswahl von Texten des heute in Südfrankreich lebenden 77jährigen Dada-Dichters, Malers, Photographen und Modeschöpfers Raoul Hausmann war dann auch das erste Buch, das er unter dem Titel „Sprechspäne“ verlegte. Die Kosten bestritt er von Ersparnissen. Um die Auflage von 700 Exemplaren abzusetzen und den Grundstock einer Kundenkartei zu erhalten, schrieb er unzählige Leute an, die als Interessenten in Frage kamen. Mit seinem zweiten Projekt verursachte Petersen einen Skandal. Er druckte auf einer billig erworbenen Handpresse Oskar Panizzas 1895 zum ersten Mal erschienenes Lesedrama „Das Liebeskonzil“. Von der in 400 Exemplaren geplanten Faksimileausgabe waren 200 Bücher fertiggestellt, als Kriminalbeamte die Druckstöcke konfiszierten. Petersen alarmierte die Presse, erhielt Schützenhilfe und seine Druckstöcke nach drei Monaten frei.Nur genital oder auch genial – das war wiederum die Frage, als der Kleinverleger im Vorjahr den 22jährigen Düsseldorfer Dieter Hülsmanns unter dem Titel „Paroxysmus“ herausbrachte. Die Polizei untersagte ihm jedenfalls den Verkauf „bis auf weiteres“. Petersen aber war nachsichtig und optimistisch: „Man kann ja auch wirklich von Polizeibeamten nicht verlangen, sie sollten literarisch geschult sein ... Das Buch wird nun geprüft, aber ich bin sicher, diesmal wird die Freigabe nicht lange dauern.“ Das letzte Buch, das Petersen in Flensburg herausbrachte, heißt „Theatrum anatomysticum“. Es enthält acht Graphiken von W. P. Eberhard Eggers und Verse von Kurt P. G. Brandt. Die Berliner Pläne reichen von einer Flugschriftensammlung – „Ragout von wichtigen Persönlichkeiten unseres Jahrhunderts, die zum Teil verschüttet sind“ - über den Kurzroman „Der Fall Gross“ des Expressionisten Franz Jung, Dieter Hülsmanns Roman „Vakher“, Schriften von Wilhelm Reich, Raoul Hausmann und des „College de Pataphysik“ bis zu Leseseiten des Wieners Gerhard Rühm. Unmittelbar vor seiner Fertigstellung steht ein Buch mit Zeichnungen und Lautgedichten von Camille Bryen, der in der Surrealistengruppe eine entscheidende Rolle spielt. Ein Unikum ist das Buch über Leben und Werk des Mailänders Piero Manzoni, der durch seine aus Stoffquadraten zusammengeflickten „weißen Bilder“ bekanntgeworden ist. Petersen selbst zeichnet für dieses in Kürze in einer Auflage von 60 Exemplaren erscheinende und nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Buch als Autor. Es besteht aus unbedruckten Zellophanseiten - ein Spaß mit tieferer Bedeutung: „Das erste vollkommene Buch; es steht kein falsches Wort drin.“ Reichtümer erwartet der Jungverleger nicht. Er betrachtet es als Aufgabe, mit seinen bescheidenen Mitteln auf Leute aufmerksam zu machen, die wichtig genug sind, um nicht vergessen oder als Randerscheinung behandelt zu werden: „Wir können keine Revolutionäre sein wie die Expressionisten“, sagt Jes Petersen, „wir haben auch nicht mehr die gleichen hochgespannten Hoffnungen wie sie, aber wir können doch versuchen, an wichtigen Dingen ehrlich und angestrengt zu arbeiten.“ Aus: Colloquium. Eine deutsche Studentenzeitschrift (Berlin/West) 18 (1964), Nr. 2, S. 15-16. Wieder abgedruckt in: Jes Petersen: Strontium. Briefwechsel mit Raoul Hausmann und Franz Jung. Herausgegeben von Andreas Hansen. Berlin: BasisDruck Verlag 2001, S. 287-288.
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